Johannes Pflüger spricht mit Roland Bernecker über Orgelmusik und Orgelbau, "Immaterielles Kulturerbe der Menschheit", durch die UNESCO.

 

Roland Bernecker war von 2004 bis 2019 Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission und im Fachkomitee "Immaterielles Kulturerbe".

 


Johannes Pflüger: Lieber Roland, Orgelmusik und Orgelbau zählen seit einigen Jahren zum immateriellen Weltkulturerbe. In welcher Funktion hast du damals bei der UNESCO gearbeitet?

Roland Bernecker: Im Dezember 2017 wurden „Orgelmusik und Orgelbau“ in Korea von der UNESCO in die repräsentative „Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen. Ich war in dieser Zeit Generalsekretär der deutschen UNESCO-Kommission. Die Kommission spielt beim Immateriellen Kulturerbe eine zentrale Rolle. Das von ihr eingerichtete unabhängige Expertenkomitee bewertet die in Deutschland eingereichten Vorschläge. Zum immateriellen Weltkulturerbe habe ich außerdem noch eine besondere Verbindung, da ich bei der UNESCO in Paris 2003 den internationalen Völkerrechtsvertrag für Deutschland mitverhandelt habe, der diesem weltweiten UNESCO-Programm zugrunde liegt. Zu dem Zeitpunkt war ich im Auswärtigen Amt in Berlin für die UNESCO zuständig.

 

Johannes Pflüger: Wie kam man damals auf die Orgel und wer hatte die erste Idee, ihr zu diesem Titel zu verhelfen?

Roland Bernecker: Der Anstoß kam von der Vereinigung der Orgelsachverständigen Deutschlands, die nicht nur die Initiative ergriff, sondern auch maßgeblich an der Ausarbeitung und Einreichung der Unterlagen beteiligt war. Sie konnte dabei beeindruckende Zahlen und Fakten zur deutschen Orgellandschaft einbringen.

Doch wie so oft sind es einzelne Menschen, die mit ihrer Begeisterung eine Sache zum Erfolg führen. Die treibende Kraft hinter diesem Projekt war Prof. Michael Kaufmann von der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg. Seine Vision und sein Engagement brachten verschiedene Akteure zusammen – den Bund Deutscher Orgelbaumeister, die Gesellschaft der Orgelfreunde und viele engagierte Einzelpersonen.

Was mich an diesem Prozess besonders beeindruckte, war diese Verbindung von institutionellem Fachwissen und persönlichem Engagement. Es zeigt, dass solche Projekte dann am wirkungsvollsten vorangebracht werden, wenn Menschen mit Herzblut hinter der Sache stehen und gleichzeitig die organisatorischen Strukturen nutzen, um ihrer Begeisterung Wirkung zu erzielen.

 

Johannes Pflüger: Wie wurde der Vorschlag der Orgel in diesem weltweiten Gremium damals diskutiert?

Roland Bernecker: Der deutsche Antrag wurde im weltweiten Gremium mit großer Zustimmung aufgenommen. Das ist bemerkenswert, denn bei vielen Einträgen zum immateriellen Kulturerbe entstehen durchaus kontroverse Debatten – nicht jede kulturelle Praxis lässt sich über nationale oder kulturelle Grenzen hinweg gleichermaßen vermitteln.

Die Orgel hingegen wirkt als universelle Kulturbotschafterin. Der Orgelbau beeindruckte als jahrhundertealtes Kunsthandwerk – ein faszinierendes Zusammenspiel von Tradition und Innovation. Wir haben hier in Bonn mit Johannes Klais eine Orgelbau-Werkstatt von Weltrang. Wer diese Werkstatt einmal besucht hat, versteht, worum bei diesem Kulturerbe geht. Die Mischung aus handwerklicher Präzision, künstlerischem Gespür und technischem Fortschritt ist beeindruckend.

Die Orgelmusik wiederum ist eine einzigartige Kunstform, die zu den Höhepunkten menschlichen künstlerischen Schaffens zählt. Wenn man etwa die Bachschen Orgelwerke hört, erlebt man nicht nur einen besonderen Klang, sondern eine universelle Sprache, die kulturelle und religiöse Grenzen auflöst.

Beeindruckt hat das Komitee auch unsere Orgellandschaft: 400 spezialisierte Handwerksbetriebe und rund 50.000 spielbare Instrumente – Zahlen, die die tiefe Verankerung dieser Kulturform in Deutschland belegen.

 

Johannes Pflüger: Welche Reaktionen gab es damals z.B. in der Musikwelt, aber auch im Allgemeinen, als der Orgel der Titel vergeben wurde?

Roland Bernecker: Die Reaktionen auf die UNESCO-Auszeichnung 2017 waren sehr positiv. Ich erinnere mich noch gut an die Begeisterung in der Orgelszene – von den Berufsorganisten über die Orgelbaumeister bis hin zu den vielen Liebhabern dieses faszinierenden Instruments. Es war ein Moment echter Wertschätzung für ein Kulturgut, das manchmal im Schatten modernerer Kunstformen steht.

 

Johannes Pflüger: Hat der Titel konkret geholfen?

Roland Bernecker: Das Greifbarste war sicherlich die finanzielle Unterstützung: Schon während des Bewerbungsprozesses hatte der Deutsche Bundestag ein spezielles Orgelförderprogramm auf den Weg gebracht, das später ins allgemeine Denkmalförderprogramm integriert wurde. Das bedeutete konkret: Seit 2016 stehen Mittel für die Sanierung und Modernisierung bedeutender Orgeln zur Verfügung, die über die Kulturstaatsministerin beantragt werden können. Als Unterzeichner des UNESCO-Übereinkommens hat Deutschland eine Verpflichtung gegenüber dem eigenen kulturellen Erbe, das wir in dieses internationale Programm eingebracht haben. Der UNESCO-Titel ist dabei erfahrungsgemäß ein guter Hebel. Es ist Sache der einschlägigen Verbände, ihn zu nutzen.

 

Johannes Pflüger: Welche Beziehung hast du zur Orgelmusik, und hat dich der Welterbe-Titel näher an die Orgel herangebracht?

Roland Bernecker: Für mich ist die Orgel das spirituellste Instrument. Bei der Orgel denkt man interessanter Weise immer auch an den Raum, den sie mit ihrem Klang erfüllt und zum Sprechen bringt. Das musikalische Erlebnis wird verbunden mit einer Intensivierung der Raumerfahrung. Es reißt einen dann manchmal förmlich mit. Faszinierend finde ich die Wandelbarkeit des Orgelklangs. Als ich zum ersten Mal die Orgelfassung von Mussorgskis Bilder einer Ausstellung von Oskar Gottlieb Blarr hörte, hat es mich fast umgeworfen. Wir folgen jeden Sommer einer Reihe von Konzerten im italienischen Tessin, wo bekannte Organistinnen und Organisten auf kleinen Dorforgeln aus dem 19. Jahrhundert spielen. Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher liebevollen Hochachtung sie diesen kleinen und in die Jahre gekommenen Instrumenten begegnen. Man spürt ihren tiefen Respekt vor einem besonderen Raum und seiner Geschichte.

Erst im Laufe der UNESCO-Bewerbung wurde mir übrigens klar, wieviel Technik und was für ein gediegenes handwerkliches Ethos für den Bau einer Orgel notwendig sind, und wieviel Voraussetzungen es braucht, um Orgelspiel auf dem Niveau zu ermöglichen, wie wir es kennen.

 

Johannes Pflüger: Was können Kirchengemeinden und Konzerthäuser besser machen, um der Orgelmusik mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen?

Roland Bernecker: Ich glaube, Kirchengemeinden und Konzerthäuser können einiges tun, um der Orgelmusik mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es geht vor allem darum, neue Zugänge zu eröffnen. Kirchengemeinden könnten zum Beispiel niedrigschwellige Formate wie kurze Mittagskonzerte oder Feierabendmusik anbieten – etwas, das in den Alltag der Menschen passt. Besonders wirksam sind Kombinationen mit anderen Kunstformen – Orgel mit Lesungen, visuellen Elementen oder sogar Tanz. Was auch oft unterschätzt wird, ist der Blick hinter die Kulissen: Wenn Menschen sehen können, wie dieses faszinierende Instrument funktioniert, weckt das sicher Interesse. Konzerthäuser sollten die Orgel stärker aus ihrer traditionellen Ecke herausholen, etwa mit Crossover-Projekten, mit Jazz oder elektronischer Musik. Auch zeitgenössische Kompositionen können frischen Wind bringen. Vielleicht würde es auch helfen, die digitale Präsenz zu stärken, gezielt junge Menschen anzusprechen und vor allem die universelle Dimension der Orgelmusik zu betonen. Letztlich geht es darum, dieses großartige Instrument von dem elitären Image zu befreien, das vermutlich nicht Wenige mit ihm verbinden. Die Orgel hat viel zu bieten – von mathematischer Präzision bis zu emotionaler Tiefe, von jahrhundertealter Tradition bis zu innovativen Klangwelten. Wenn es gelingt, diese Vielfalt zu vermitteln und dabei die Schwellen abzubauen, können wir vielleicht neues Publikum gewinnen und auch die bereits Interessierten noch mehr zu begeistern.

 

Johannes Pflüger: Die Vereinten Nationen haben sich zum Ziel gesetzt, sich für Frieden einzusetzen. Nun steht in der Friedenskirche die „Friedensorgel“. In diesem Jahr wird ihr die weltweit einzigartige Klangfarbe „Voix de paix“ (Friedensstimme) eingebaut. Was kann die Orgel als immaterielles Weltkulturerbe zum Frieden beitragen?

Roland Bernecker: Der Wunsch nach Frieden beschäftigt uns momentan mit ganz neuer Dringlichkeit. Es scheint, als wären wir nach dem kurzen Globalisierungsjahrzehnt der 1990er Jahre ganz unvermittelt in ein Zeitalter eingetreten, in dem Kriege wieder verstärkt als geeignetes Instrument zur Durchsetzung politischer Interessen betrachtet werden. Die Vereinten Nationen haben in dieser Situation zwar einen schweren Stand, aber ihr Programm einer friedlichen globalen Ordnung ist nach wie vor das wertvollste politische Projekt unserer Zeit. Der Beitrag zu diesem Projekt, den die Orgel als immaterielles Kulturerbe leisten kann, ist aus meiner Sicht die langfristige Anstrengung zur Zivilisierung des menschlichen Geistes. Es sind letztlich Kulturtechniken, die es uns erlauben, in großen und komplexen Gesellschaften in einer friedlichen und freiheitlichen Ordnung zusammen zu leben. Die UNESCO-Programme zur Würdigung und Erhaltung des Kulturerbes tun nichts anderes, als im globalen Maßstab auf diese Leistungen hinzuweisen und sie für das langfristige Friedensprojekt der Vereinten Nationen zu mobilisieren. Orgelbau und Orgelmusik sind Teil dieses großen zivilisatorischen Projekt einer langfristigen Friedensordnung für das menschliche Leben auf Erden. Im Fall der Orgel kommt noch etwas hinzu. Im christlichen Verständnis ist Frieden auch das Auffinden des göttlichen Willens, das Erleben einer tiefen inneren Ruhe. Arvo Pärt hat einmal über seinen Kompositionsstil gesagt, es gehe darum, dass durch die Musik die Spuren des Vollkommenen erscheinen und alles Unwichtige einfach abfällt.

 

Zu beiden Friedensprojekten wird die „Voix de paix“ der Friedenskirche einen Beitrag leisten. 

 

Johannes Pflüger: Lieber Roland, vielen Dank für das Gespräch.